Die Instrumente des Völkerrechts einsetzen

Nahostpolitik

Von
Luz María De Stefano Zuloaga de Lenkait, Juristin und Diplomatin a.D., 10.10.2014

Mit seinen unhaltbaren Behauptungen lässt sich Joschka Fischer wie gewohnt für die westliche Propaganda-Masche leicht instrumentalisieren, als ob die Ukraine kurz vor einer militärischen Aggression Russlands stünde. „Militärisch hat die Ukraine keine echte Chance gegen die russische Armee.“ Im Gegensatz zum westlichen US/EU-Block setzt der russische Präsident die Instrumente des Völkerrechts ein, etwas völlig unbekanntes für einen Joschka Fischer, der hier stumm und taub vor einer Terra Incognita steht. Ebenso der amtliche Außenminister Walter Steinmeier mit seiner erbärmlichen Erklärung: „Wir müssen bekennen, dass wir das geeignete Mittel nicht gefunden haben, um den lang andauernden Krieg … in Syrien zu beenden.“ (Meldung vom 9.10.) Die Entgleisung Europas aus allen Bahnen des Völkerrechts auf der Fahrt in unzählige Kriege und Aggressionen der USA seit der Wende 1990 existiert für beide Politiker nicht. Über Angriffskriege gegen den Irak, Afghanistan, Jugoslawien (Serbien), Libyen, Syrien schweigt Joschka Fischer auffällig, weil er sich würdelos selbst dafür als Marionette der USA hergab.

„Die Rückkehr der Ukraine in Russlands Einflusssphäre“ wäre das normalste der Welt und überhaupt nicht „unfreiwillig“, wie Fischer denkt, denn die Ukraine ist durch ihre Geschichte und Kultur russisch geprägt. „Das militärisch erzwungene Ende der europäischen Staatenordnung nach dem Kalten Krieg“ fand mit der NATO-Aggression gegen Jugoslawien statt. Ein Russland mit einer langen gemeinsamen Grenze mit der EU wäre absolut kein Problem für Europa. Russland hat versucht, eine europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die ohne die wesentliche, dominante Rolle der USA auskommen sollte. Russlands Vorschlag wurde jedoch törichterweise abgelehnt. Eine solche Sicherheitsordnung haben aber Deutschland und ganz Europa bitter nötig. Schon FDP-Außenminister Genscher hatte diese Integrationsidee, als die deutsche Einheit zustande kam. Hindernis dazu waren und sind die USA mit ihrer NATO, die eine dominante bestimmende Rolle in Europa spielen. Der ehemalige Grünen-Außenminister selbst bleibt immer noch unter dem verheerenden US/NATO-Einfluss befangen, ohne zu begreifen, dass die US-Dominanz katastrophale Folgen für die Integration Europas mit sich bringt.

Mit dem NATO-Überfall auf Jugoslawien wurden die Grundsätze der staatlichen europäischen Ordnung verhöhnt – Gewaltverzicht, Unantastbarkeit der Grenzen, Selbstbestimmungsrecht der Völker. Fischer scheint noch immer nicht begriffen zu haben, worum es eigentlich in einer zivilisierten europäischen Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geht, nämlich um den Respekt von Prinzipien und Rechtsgrundlage. Darin besteht die Überzeugungskraft der russischen Außenpolitik. Der Kreml hält sich seit der Zeit der Sowjetunion an das Völkerrecht und kämpft mit dem Instrument des Rechts auf der internationalen Bühne.

Frankreich sollte ohne Verzögerung mit der diskreditierten westlichen Allianz brechen und aus der Logik des Krieges aussteigen. Dem Beispiel an Zivilcourage und ehrenvoller Haltung des französischen Verteidigungsministers Jean Pierre Chevènement 1991 hätte der Außenminister Joschka Fischer folgen müssen, als sich die USA/NATO entschloss, 1999 Belgrad zu bombardieren. Jean Pierre Chevènement warnte mit seinem Rücktritt in ehrenvoller Zivilcourage die Pariser Regierung vor ihrer verfehlten Kriegsentscheidung gegen den Irak 1991. Aber einem Joschka Fischer fehlte und fehlt weiterhin die Überzeugung und die Ausbildung, um zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. („Rücktritt aus Protest gegen Krieg. Frankreichs Verteidigungsminister verurteilt die Zerstörung Iraks“. „Der Mann, der den Krieg auslöschen wollte“. Frankfurter Rundschau, 30.1.1991).

Ganz ähnlich der Fall bei Stefan Kornelius. Er sollte von der rationalen sachlichen Überlegung der Londoner Tageszeitung „The Guardian“ lernen, um zu begreifen, was die Allianz der USA mit arabischen Staaten heute betrifft. Die Einschätzung des Guardian von 1991 ist immer noch gültig:

<Some Arab leaders may, for their own perverse reasons and for the time being, support the United States. Some European leaders may, for the moment, do the same. But the great mass of the people in the Arab and Islamic World are clearly backing Iraq. … Wise European nations, today the Germans and the Spaniards, tomorrow the French and the Italians, will disengage themselves from this epochal struggle“.> („Villains and Victims in a colonial war“, London, The Guardian, 29.1.1991)

Die Lage hat sich in mehr als zwanzig Jahren von barbarischen US-Interventionen im Nahen Osten nicht wesentlich verändert. Eher hat sich die Lage zugespitzt und sich gegen den unerwünschten impertinenten US- Interventen aufgeheizt.

<IS wurde von den USA bewaffnet, finanziert und ausgerüstet. Überdies ebenso wie Al-Qaida ist IS ein Instrument der Gesamtstrategie der USA, eine Strategie, die schon vor Jahrzehnten entworfen wurde, um den vollen Zugriff auf das Öl als wichtigste Energiereserve zu haben. Obendrein würde die Zerschlagung des Irak auch die Position der Israelis im Nahen Osten stärken.> (Teile und Herrsche – Kolumne von Mumia Abu-Jamal, Junge Welt, 6.10.14).

<Die US-Regierung erweist sich, wie früher, wieder einmal als Meisterin der kontraproduktiven Kriegführung…. In ihrer Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit beansprucht die US-Regierung, für die Völker des Nahen Osten zu sprechen. Sie ignoriert im Falle Syriens, dass sowohl die Regierung in Damaskus auch die Islamisten jeweils einen erheblichen Teil der Bevölkerung hinter sich wissen, während die USA außer einer Handvoll berechender Opportunisten kaum Verbündete im Land haben. Präsident Barack Obama ist auch dabei eine totale Fehlbesetzung.> („Stärkung der Islamisten“ von Knut Mellenthin, Junge Welt, 29.9.)

„Was tun mit Syrien? Was tun mit Assad?“ fragt anmaßend unverschämt und völlig daneben der unverbesserliche SZ-Redakteur Stefan Kornelius (SZ-Leitartikel „Islamisten – Syrische Schatten“, 8.10.). Er bleibt immer noch im gescheiterten Interventionismus- Denken befangen, ohne einzusehen, dass die Zukunft Syriens dem syrischen Volk gehört und niemand anderem. Es ist das syrische Volk, das Präsident Baschar Al-Assad mit erheblicher Mehrheit am 3. Juni wiedergewählt hat. Die syrische Entscheidung ist selbstverständlich zu respektieren.

Im Weißen Haus gibt es Indizien für ein Umdenken, wie die jüngste Rede vom Vizepräsident Joseph Biden am 2.10. zeigt, nicht aber in Europa. Rainer Rupp berichtet: <Ungewöhnlich offen hatte er (der US-Vizepräsident Joseph Biden) den US-Verbündeten im Nahen Osten die Schuld an der Stärkung von ISIS. … und dessen Fähigkeit, weite Teile des Iraks und Syriens zu überrennen, zugewiesen. Für die USA hätten „die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate“ das „größte Problem“ im Syrien-Krieg dargestellt. Um den syrischen Präsident Baschar Al-Assad zu stürzen, hätten sie nämlich „alle, die gegen Assad kämpfen wollten mit Hunderten Millionen von Dollar und Zehntausenden von Tonnen an Waffen überschwemmt und dabei auch die Leute von Al Nusra, Al-Qaida und Dschihadisten aus allen Teilen der Welt akzeptiert.“… Der Stellvertreter Barack Obama bestätigte etwas, das … längst bekannt ist, offiziell aber stets dementiert wurde: Die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützten und steuerten die Rebellion in Syrien vom Ausland aus mit massiver militärischer Hilfe in Form von Waffen, Material und Geld. … Gemäß geltendem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen stellt das eine Form von Angriffskrieg dar. Nach den Worten Bidens kann an diesem Tatbestand kein Zweifel mehr bestehen. Ein Umdenken in den europäischen Hauptstädten in Bezug auf Syrien ist dennoch nicht zu erwarten. Auch nicht in Berlin, das mit seiner neuen, aggressiven Nahostpolitik sich ohnehin zunehmend der Leitlinie Washingtons nähert… die USA taten genau das gleiche wie ihre Verbündeten: Sie versorgten IS- und Al-Nusra-Kämpfer mit Waffen und bildeten sie daran aus, u.a. in Camps in Jordanien. Tatsachen, die Biden in seiner Harvard-Rede vornehm verschwieg. Die westlichen Medien tun alles, um sie im großen Gedächtnisloch möglichst schnell zu entsorgen.> (Leitartikel „US-Vize verpetzt IS-Verbündete – Dschihadisten“ von Rainer Rupp, Junge Welt, 7.10.14) Der erbärmliche SZ Leitartikel (8.10.) von Stefan Kornelius dient gerade diesem niederträchtigen Zweck, nämlich die Tatsachen zu verschleiern oder sie zu verdrehen.

Einige Leitlinien aus der Rede des Außenministers Chinas, Wang Yi, vor der UN-Vollversammlung am 27.9. könnten Stefan Kornelius und auch dem Außenminister Walter Steinmeier helfen, Klarheit in ihren Köpfen zu schaffen und ihre verirrten und verdrehten Gedanken zu ordnen:

<The United Nations was established to keep the scourge of the two world wars from occurring again and it embodies the fervent hope of all countries for peace and stability. To achieve this goal, the Charter of the United Nations presented a grand vision of joint efforts to build a better world.

In this world we should treat each other as equals. … The pursuit by different countries of economic and social development must be respected. Their right to independently choose their own social systems and development paths must be safeguarded.

We should be open and inclusive … achieve harmony among countries with different social systems, religions and cultural traditions. …

History and reality have repeatedly demonstrated that to meet violence with violence will not lead to enduring peace, and the use of force will create more problems than solutions. … If a country places its domestic law above international law and interferes in other countries‘ internal affairs at will or even seeks regime change, the legitimacy of its action cannot but be questioned by the international community. …
The historical facts are perfectly clear, and a final verdict has already been pronounced on what was right and what was wrong. History is not to be falsified, and truth is not to be distorted. … Today, 70 years later, let us jointly uphold human justice and conscience so that those who attempt to deny aggression and distort history will have nowhere to hide. … Let us jointly defend the UN Charter and the outcomes of the Second World War so that the vision for a world free of war and with lasting peace will strike deep roots in our hearts and pass from one generation to another.> (www.china-un.org)

Die fatale Außenpolitik der USA, die die Vorherrschaft militärischer Elemente, eine verkehrte Auslegung von UNO-Resolutionen und den flagranten vertragswidrigen Missbrauch von europäischen Verteidigungsinstitutionen wie der NATO durchsetzen will, muss dringend von der Völkergemeinschaft gebremst werden. Der ehemalige Grünen-Außenminister Fischer, aber auch der amtliche SPD-Außenminister Steinmeier haben keine Initiative dafür ergriffen. Im Gegenteil sehen sie Deutschland gern an der Seite eines unberechenbaren Weltherrschers, ohne zu merken, dass die erste und größte Demokratie USA dabei ist, sich selbst und die Welt zu ruinieren, indem sie sich nicht mehr an die Beachtung von Menschenrechtsprinzipien aller Völker, das ukrainische und syrische Volk eingeschlossen, oder an die Rechtsstaatlichkeit hält, sondern an die bloße zerstörerische militärische Gewalt mörderischer Technik von Massenvernichtungsmitteln, um unter verdeckten oder unklaren Zielen sowohl in Europa (Ukraine) als auch im Nahen Osten ein Regime-Change zu erreichen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung.

Paul Craig, ehemaliger Staatssekretär vom Präsident Ronald Reagan, stellt in seinem Kommentar zur Obama Rede am 24.9. in New York fest: <Die ganze Welt weiß, dass Russland keine territoriale Ambitionen hat. Wenn es anders wäre, hätte das russische Militär sich nicht wieder zurückgezogen, nachdem es die von den USA ausgebildete und ausgerüstete georgische Armee zerschlagen hatte, die zuvor Südossetien angegriffen hatte. Der Kreml hat Georgien nicht wieder eingegliedert, obwohl es über Jahrhunderte Bestandteil Russlands gewesen war. Wenn Washington Bomben wirft und in 13 Jahren ohne Kriegserklärung in sieben Länder einfällt, dann ist das keine Aggression. Eine Aggression findet erst dann statt, wenn Russland die mit 97 Prozent der Stimmen zustande gekommene Petition der Krim zur Wiedervereinigung mit Russland annimmt.> (Übersetzung: Rainer Rupp – Abgeschrieben in Junge Welt, 1.10.14)

Welche Rechtsgrundsätze, welche Friedensordnung Europas repräsentierte Fischer, als er die NATO-Bomben über Jugoslawien billigte und dann dort die Grenzen mit Bomben-Gewalt verändert wurden? Dieser westliche NATO-Überfall war der Ausgangspunkt dramatischer Konsequenzen für Europa, wobei Kooperation erneut durch Konfrontation abgelöst wurde, Vertrauen durch Misstrauen ersetzt, Abrüstung durch Aufrüstung bis heute noch. Die Konversion der Rüstungsindustrie ist der richtige Weg, der zu folgen ist, ein anspruchsvoller Weg, der nach dem Ende des Kalten Krieges ebenso wie eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung vernachlässigt wurde. Zu Recht hält die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen diese Industrie zum großen Teil für überflüssig. Die Krisen in der Welt benötigen politische Reaktionen, keine militärische, am wenigsten aus dem Westen. Gerade deshalb müssen auch die Exporte von Rüstungsgütern gestoppt oder mindestens eingeschränkt werden, wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel richtig vorhat.

Rainer Rupp macht auf „eine Ernüchterung“ bei vielen westlichen Medien aufmerksam, sogar bei denen, „die sich noch vor kurzem ihre Begeisterung für den „Geist vom Maidan“ als Faschistenversteher geoutet hatten“ (Kiew im Schraubstock“ von Rainer Rupp, Junge Welt, 4/.5.10.): <So konnte man lesen: „Der Staatsbankrott der Ukraine wird zeigen, dass das Land nicht in der westlichen Zivilisation existieren kann.“ Und die Chicago Tribune schreibt: „Um des Friedens und der Vernunft willen sollte das Parlament der Ukraine nein zur NATO sagen“, denn das Land „kann sich eine Mitgliedschaft in der NATO nicht leisten.“ Und in der rechten „The American Conservative“ konnte man lesen: „Den Beziehungen der USA zu Russland und den Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland wird am besten gedient, wenn die Ukraine ein neutraler, blockfreier Staat bleibt.“ …

Zugleich treten die Probleme, die zur ursprünglichen Euro-Krise geführt haben, wieder stärker in den Vordergrund – mit dem Unterschied, dass sie in der Zwischenzeit noch viel größer geworden sind. Vor diesem Hintergrund steht Russland im Vergleich zu den EU-Staaten hervorragend da…. Laut dem US-Wirtschaftsmagazin Fortune erste Woche Oktober wird das (die Staatsverschuldung) „den Kreml nicht unter Druck setzen“, denn die russische Staatsverschuldung liege „bei mickerigen 13 Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts.> Deutschland lag 2013 offiziell bei stattlichen 80,8 Prozent.

Als einen weiteren Fehler des Westens hat der russische Vizeaußenminister Michail Bogdanow den Einsatz der von den USA geführten internationalen Koalition gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien bezeichnet.
Es sei unzulässig, „dem Terrorismus in der Region den Krieg zu erklären sowie irgendeine Koalition zusammen zu zimmern und zugleich die Rolle einer ganzen Reihe führender regionaler Staaten zu ignorieren“. „Die Führer der selbsternannten Anti-Terror-Koalition verweigern der syrischen Regierung das Recht, ihr Partner im Kampf gegen den Terror sogar in Gebieten und im Luftraum von Syrien selbst zu werden.“ Unzulässig sei auch, „die Parole des Anti-Terror-Kampfes als Deckmantel zur Durchsetzung eigener geopolitischer Ziele, zur Verletzung der Souveränität von Staaten, zum Umkrempeln ganzer Regionen und zur Schaffung illegitimer Präzedenzfälle in den internationalen Beziehungen zu missbrauchen“. (RiaNovosti 8.10.14)