Schlimme Geschichtsklitterung und ein ideologisch vernebelter Blick auf die Realität

Nahostpolitik

Anmerkungen zu der Antisemitismus-Dokumentation von WDR und ARTE

Von Arn Strohmeyer, 15.06.2017

Es ist schon toll, was im deutschen Fernsehen alles möglich sein sollte, wenn die Verantwortlichen im WDR und bei ARTE nicht die Notbremse gezogen und den Beitrag „Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa“ aus dem Programm genommen hätten. Um die Juden in Europa geht es in diesem Film aber kaum und nur am Rande, sondern hauptsächlich um den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, und da werden die ganzen höchst peinlichen Stereotypen aufgetischt, die die israelische Propaganda (für die Hasbara gibt es sogar ein eigenes Ministerium) seit Jahrzehnten benutzt, um die Unrechtmäßigkeit ihrer siedlerkolonialistischen Herrschaft in Palästina zu verschleiern. Beispiel: Im Film werden die Palästinenser als die „neuen Nazis“ dargestellt. Der Bildschnitt von Palästinenserpräsident Abbas zum NS-Ideologen Julius Streicher sagt da allein alles. Schon im Jahr 1983 hat der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner, der jetzt an der Universität von Jerusalem lehrt,  zu diesem Thema einen wegweisenden Aufsatz geschrieben.

Diner argumentiert: Für das offizielle Israel und die meisten Israel-Verteidiger ist einzig der islamische Antisemitismus für den Konflikt Israels mit den Palästinensern verantwortlich. Die Tatsache, dass eine koloniale Staatenbildung durch zugewanderte Fremde in einem voll bewohnten Land automatisch Gewalt herbeiführen muss (wovor ja auch viele vorausschauende Zionisten gewarnt haben), und es Hass auf den Zionismus im Nahen Osten erst seit der Ankunft der ersten jüdischen Siedler in Palästina gibt, sind sie nicht bereit einzugestehen.

Die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern ist so gesehen in den Augen der Israel-Verteidiger auch kein kolonialer Konflikt – mit allen Folgen, die dieser Siedlerkolonialismus mit sich bringt: Landraub, Vertreibung, Entrechtung, Unterdrückung, Besatzung usw. Die Israel-Verteidiger argumentieren rein zionistisch: Die Palästinenser sind Antisemiten, sie wollen keinen Frieden. Das Problem, das allem zu Grunde liegt, ist für sie also der Antisemitismus und in seinem Gefolge der „Terrorismus“. Nun gibt es auch im Völkerrecht für unterdrückte oder besetzte Völker ein Widerstandsrecht gegen das feindliche Militär, aber das ist für sie kein Argument. Israel ist und bleibt das Opfer und ist so auch von jeder Verantwortung befreit.“

Indem die jüdischen Israelis den Konflikt mit den Palästinensern und den Arabern insgesamt unter das Vorzeichen des Antisemitismus stellen, bringen sie den Konflikt auch direkt mit dem Holocaust in Zusammenhang. Sie vermengen also den kolonialen Konflikt in Palästina mit der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Das heißt aber, dass die Israelis das wahre Geschehen in Palästina, also die wirklichen Ursachen des Konflikts und seine Austragungsformen nicht zur Kenntnis nehmen und verleugnen. Denn die Palästinenser haben mit der Vernichtung der europäischen Juden nichts zu tun. In Palästina handelt es sich aber um eine koloniale Auseinandersetzung, bei der jüdische Einwanderer ein anderes Volk – eben die Palästinenser – mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben und ihre Gesellschaft zerstört haben, um in diesem Land ihre staatliche Existenz aufzubauen.

Die jüdischen Israelis deuten den Konflikt mit den Palästinensern also als Fortsetzung ihrer Verfolgungsgeschichte außerhalb Palästinas. Wobei es natürlich völlig klar und ganz selbstverständlich war und ist, dass die Angegriffenen – die Palästinenser – sich gegen ihre Vertreibung und Kolonialisierung wehrten und auch heute noch wehren, was aber zu einer paradoxen und absurden Situation führte. Denn die zionistischen Neueinwanderer stellten und stellen sich entsprechend ihrer langen Verfolgungsgeschichte – gipfelnd im Holocaust – als die Angegriffenen und als die Hassobjekte dar, also als die eigentlichen Opfer. Die wirklich Angegriffenen – die Palästinenser – wurden und werden zu den eigentlichen Tätern gemacht. Die Rollen von Tätern und Opfern wurden also völlig umgekehrt. Diese Verkehrung machte es auch möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die Palästinenser im Verlauf des zionistischen Kolonisierungsprozesses verdrängt und vertrieben zu haben, leugnen konnten. Israel verdrängt die Fakten seines Vorgehens gegen die Palästinenser bis heute. Eine Aufarbeitung des gewaltsamen Vorgehens gegen die Palästinenser – etwa der Nakba – ist für die israelischen Juden deshalb so schwierig, weil damit die Grundlagen des zionistischen Projekts insgesamt in Frage gestellt würden.

Dieses Deutungsmuster – also die Vermischung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung mit der kolonialen, von Gewalt geprägten Situation, die die zionistischen Zuwanderer mit ihrem Projekt auf palästinensischem Land geschaffen haben – besagt anders formuliert, dass sich die Wahrnehmung der europäischen Geschichte in den Palästina-Konflikt hineingeschoben hat. Nicht zuletzt dadurch ist er unlösbar geworden. Verteidiger und Propagandisten Israels übernehmen diese rein zionistische Argumentation. Damit sehen sie den Konflikt erstens ahistorisch und entpolitisieren ihn zweitens auf diese Weise. Die Feindschaft zwischen Israelis bzw. Juden und Palästinensern bzw. Arabern wird verabsolutiert. Sie wird nicht aus dem kolonialen historischen Prozess heraus erklärt, sondern ahistorisch gesehen. Die Feindschaft wird als gegeben, unveränderlich und unausweichlich verstanden und dargestellt, sie wird sozusagen auf das „Wesen“ der Araber zurückgeführt – eben auf deren Antisemitismus. So wird auch unhinterfragt der zionistische Mythos, der zum Dogma und zur Staatsräson geworden ist, übernommen, dass Israel das Land des jüdischen Volkes ist. Aus der Vermischung des Palästina-Konflikts mit dem Holocaust ergibt sich für Israel automatisch, dass die Palästinenser die „neuen Nazis“ sind, die Israel zerstören wollen. Soweit Dan Diner.(1)

Ein anderes Beispiel aus dem Film: Die Darstellung der Ereignisse 1947/48 durch den als „Legende“ bezeichneten zionistischen Kämpfer Rafi Eitan, der die Entstehungsgeschichte Israels historisch völlig falsch und sehr verklärt darstellt. Die israelische Geschichtswissenschaft ist da seit der Teilfreigabe von Dokumenten aus dieser Zeit in den Archiven sehr viel weiter und hat herausgearbeitet, was damals wirklich geschah. Kurz zusammengefasst: Am 10. März 1948 haben sich David Ben Gurion (später der erste Ministerpräsident Israels), wichtige zionistische Funktionäre und elf Vertreter der jüdischen Einwanderer in Tel Aviv getroffen. Sie beschlossen die ethnische Säuberung Palästinas. Noch während des britischen Mandats begannen die Angriffe, geführt von Moshe Dajan (später Verteidigungs- und Außenminister) und Yitzhak Rabin (später Ministerpräsident und Außenminister und Friedensnobelpreisträger). Elf Stadtviertel und 531 palästinensische Dörfer wurden zwangsgeräumt, viele von ihnen völlig zerstört. Es kam zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Massakern, um die palästinensische Bevölkerung in Panik zu versetzen und zur Flucht zu bewegen. Das schlimmste Massaker begingen jüdische Terrorgruppen in dem Dorf Deir Jassin bei Jerusalem mit über 200 Toten. 750 000 Menschen wurden insgesamt vertrieben oder mussten fliehen. Die Rückkehr in ihre Dörfer wurde ihnen mit Gewalt verwehrt. Heute bedecken Wälder, Parks und Freizeiteinrichtungen die einstigen Dörfer.

Nachzulesen ist das bei den israelischen Historikern Simcha Flapan, Benny Morris, Ilan Pappe und Avi Shlaim. Auch der israelische Soziologe Baruch Kimmerlinfg hat sich ausführlich dazu geäußert, in den USA vor allem Noam Chomsky und Norman Finkelstein. Auch die israelischen Historiker der jüngeren Generation bestreiten die ethnische Säuberung 1948 gar nicht mehr. Wie Benny Morris argumentieren sie: Dieses gewaltsame Vorgehen war notwendig, sonst gäbe es heute keinen israelischen Staat. Benny Morris hat dafür das anschauliche aber sehr zynische Bild geprägt: „Wenn man ein Omelett zubereiten will, muss man die Eier dazu zerschlagen!“ Diese Historiker und ihre Forschungsergebnisse einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen – wie das die beiden Filmemacher tun – , ist Geschichtsklitterung übelster Art.

Dass sie nicht zwischen Judentum (eine religiöse Kultur), Zionismus (eine nationalistische politische Ideologie) und dem Staat Israel und seiner Politik und umgekehrt Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Politik unterscheiden können oder wollen, ist bei ihrer einseitigen ideologischen Sichtweise nicht verwunderlich. Vielleicht reicht auch einfach die intellektuelle Kapazität nicht. Natürlich gibt es echten Antisemitismus, niemand leugnet das. Den Antisemitismus-Vorwurf, den die beiden Filmautoren benutzen, stammt aber aus dem Arsenal der israelischen Propaganda und hat schlicht die Funktion, jede Kritik an der völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik Israels schon im Keim zu unterdrücken. Darüber soll jede Diskussion verhindert werden. Menschen, die sich für die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte durch Israel einsetzen (etwa die NGO’s), in die antisemitische Ecke zu rücken (wie das die Filmautoren tun), ist eine Perversion des politischen Denkens und eine Verhöhnung der Opfer des Holocaust. Wie anders soll man auf dieses Menschheitsverbrechen reagieren als mit dem Engagement für Menschenrechte? Die beiden Autoren und die meisten Israelanhänger können nur so argumentieren, wie sie es tun, weil sie die israelischen Verbrechen – die vergangenen und die heutigen, denn die ethnische Säuberung (in Israel „Judaisierung“ genannt) geht weiter – völlig ausblenden und Israel als Unschuldslamm ansehen und behandeln.

Die Filmautoren stellen nicht einmal die Frage, ob es sich bei dem Hass der Palästinenser auf Israel und seine Politik wirklich um Antisemitismus handelt. Das ist für sie völlig klar. Die palästinensische Schriftstellerin Susan Abulhawa (die Autorin des Romans „Während die Welt schlief“) hat einen Aspekt in die Antisemitismus-Diskussion gebracht, der bisher wenig beachtet worden ist. Die Crux an der Antisemitismus-Diskussion ist aus ihrer Sicht die Vernachlässigung der Dimension der Macht. Sie schreibt: „Antisemitismus und alle Formen von Rassismus benötigen ein Machtgefälle, das in eine Richtung läuft. Wenn z.B. Weiße die Schwarzen hassen, aus einem Gefühl der Überlegenheit oder Bösartigkeit oder Ignoranz heraus, dann ist das Rassismus. Wenn umgekehrt Schwarze Weißen gegenüber Misstrauen, Argwohn, Abneigung oder sogar Hass verspüren, ist das kein Rassismus. Sondern vielmehr eine minimale menschliche Reaktion, die entsteht, wenn man jahrhundertelang von Weißen verachtet, brutalisiert und terrorisiert worden ist.“

Das, was die meisten Deutschen, die sich arisch dünkten, gegenüber den deutschen Juden gefühlt hätten, sei Antisemitismus gewesen. Aber was die Juden „zurückgefühlt“ hätten, nämlich Hass, Misstrauen oder was auch immer den Nazis gegenüber, sei kein Rassismus gewesen, sondern eine natürliche Reaktion darauf, Opfer eines Völkermordes zu sein. Auf die gleiche Weise würden Palästinenserinnen und Palästinenser fühlen. Wenn sie gegenüber Juden Misstrauen, Abneigung oder Hass verspürten, sei das die natürliche Antwort auf Jahrzehnte von systematischer Unterdrückung, Entrechtung, Terrorismus, ständiger Schikanen, permanenten Diebstahls ihres Landes, ihrer Häuser, nächtlicher Überfälle und Verhaftungen.

„Wir sagen“, so Susan Abulhawa, „‚Juden‘, und es ist klar, wen wir damit meinen. Nicht die Juden allgemein, sondern diejenigen, die den Tod auf uns regnen lassen, die uns alles gestohlen haben und die unsere Herzen herausgerissen haben. Ich weiß, dass diese Worte für Menschen, die ihre eigene Geschichte mit dem Antisemitismus haben, unbequem sind oder ihnen Unbehagen bereiten. Aber meine Arbeit besteht darin, eine Geschichte zu erzählen, die ehrlich und authentisch ist. Und ich kann nicht die Ehrlichkeit meiner Geschichten dafür opfern, um einigen Lesern ein wenig Unbehagen zu ersparen.“ Es sei nötig gewesen, dieses Unbehagen zu hinterfragen. Und dafür müsse man die Bedeutung und die Wirkung von Machtstrukturen, also die Gefühle der Unterdrückten gegenüber ihren Unterdrückern bedenken. Eine in Deutschland lebende Frau solle nicht erwarten, dass ihre eigenen Gefühle und Sensibilitäten auch die Gefühle einer Palästinenserin seien, die in einem Gefängnis am Meer, das man Gaza nenne, leben müsse.

Was die beiden Filmemacher da abgeliefert haben, ist ein undifferenziertes Machwerk, das die Realität völlig einseitig und verzerrt darstellt. Der Film ist ein Ärgernis, eine große Dummheit, liegt aber ganz auf der Linie der deutschen philosemitischen Israel-Hörigkeit, die der Münchener Pädagoge Eckhard Lenner so treffend beschrieben hat: „Es gibt einen ernstzunehmenden Grund dafür, dass man in Deutschland nach der Nazikatastrophe dieses idealisierte Wunschbild von Israel zusammenphantasiert hat, von dem man unter keinen Umständen lassen will oder lassen darf: Die durch die furchtbare Vergangenheit belastete deutsche Seele brauchte und braucht dringend Entlastung. Man hofft, die ersehnte Seelenruhe dadurch zu gewinnen, dass man sich auf die ‚richtige‘ Seite begeben hat und zum Philosemiten mutiert ist. Man glaubt, Sühne für Verbrechen an den europäischen Juden zu leisten, indem man das zionistische Projekt bedingungslos unterstützt und zu den Verbrechen der Zionisten schweigt. Auch die Vorstellung von der deutsch-israelischen Wertegemeinschaft ist ein Produkt dieses deutschen Bedürfnisses nach Befreiung von der alten Schuld. Nur indem man sich in dieser realitätsfernen Wunschwelt bewegt und alles Störende abwehrt, kann man die Politik Israels, die unseren Werten ja fundamental widerspricht, widerspruchlos hinnehmen, und sogar tatkräftig unterstützen. Die Wahrheit kommt dabei unter die Räder. Um die Fiktion vom gleichgesinnten Freund Israel aufrechterhalten zu können, ist man zur permanenten Unaufrichtigkeit gezwungen.“

Und Lenner folgert daraus: „Das gepriesene ‚deutsch-israelische Wunder‘ entpuppt sich als deutsch-israelisches Dilemma. Die Deutschen, die es diesmal besonders gut machen wollen, sind mit ihrer bedingungslosen Unterstützung des zionistischen Projekts zu Komplizen einer anachronistischen kolonialistischen Verdrängungs- und Unterdrückungspolitik geworden. Während sie glauben, ihren Beitrag zur Sicherheit des kleinen bedrohten Israel zu leisten, tragen sie in Wirklichkeit dazu bei, die brutale Herrschaft des Besatzungsregimes über ein anderes Volk zu sichern. Weil sie nicht den Mut haben, den Tatsachen ins Auge zu blicken, kommen sie ihrer eigentlichen Verpflichtung nicht nach. Denn eigentlich müssten sie ja – aufgrund ihrer doppelten Erfahrung mit dem Holocaust einerseits und mit dem Scheitern ihrer nationalistischen expansiven Gewaltpolitik andererseits – für den absoluten Vorrang der Menschenrechte und des Völkerrechts eintreten – und gerade in der ‚besonderen Beziehung‘ zu Israel.“ (3)

Die Verantwortlichen von WDR und ARTE haben richtig gehandelt, den Film nicht ins Programm zu nehmen. Sie haben Verantwortungsgefühl gezeigt. Man sollte aber überlegen, den Film trotzdem noch zu zeigen, aber dann müssten Leute von der Gegenseite – etwa die israelischen Historiker Ilan Pappe, Avi Shlaim und Moshe Zuckermann – ihn kommentieren dürfen. So kämen beide Seiten zu Wort, und die Ausgewogenheit hätte eine Chance. Im Übrigen gilt, was den Antisemitismus angeht, der Satz des früheren israelischen Botschafters in Deutschland Avi Primor: „Der Antisemitismus hier nimmt nicht zu, sondern die Sympathien für Israel nehmen ab.“

1 Dan Diner: Israel und das Trauma der Massenvernichtung, in: Dietrich Wetzel (Hg.): Die Verlängerung der Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästina-Konflikt, Frankfurt am Main, 1983

2 Susan Abulhawa bei einer Lesung am 9. Mai 2017 in Bremen

3 Eckhard Lenner: Das ideale Wunschbild von Israel dient der Antlastung der deutschen Seele, Mitteilungen Arbeitskreis Salam Shalom Palästina-Israel e.V. München