Bericht aus dem Gazastreifen, Gaza Nov. 2017

Nahostpolitik

Von Abed Schokry, 28./29. November 2017

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Liebe Freunde,

Die Gesamtsituation im Nahen Osten wird immer unübersichtlicher. Leider sind wir von den neuesten Entwicklungen sowohl direkt als auch indirekt betroffen. Ich beziehe mich auf die Ereignisse in Saudi Arabien, im Libanon, im Irak, in Syrien, in Ägypten (Sinai-Halbinsel) und im Jemen. Zwar ist dies nur meine persönliche Meinung und ich möchte auch nicht mehr dazu schreiben, aber ich denke, dass die kommenden Tage und Wochen meine Befürchtungen bestätigen werden.

Aber zurück nach Gaza.

Fast sechs Wochen sind nun vergangen, nachdem Fatah und Hamas ihr Versöhnungsabkommen unterzeichnet haben. Die Palästinensische Behörde hat die Kontrollen über alle Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen und seiner Umgebung übernommen. Dennoch hat sich NICHTS für uns, die Bevölkerung in dem Gazastreifen, geändert. Die Stromversorgung ist dieselbe, die Gehaltskürzungen der PA-Angestellten sind dieselben usw. Es gibt sogar einen sehr kritischen Engpass von vielen Medikamenten, die für die Durchführung von Notfalloperationen dringend erforderlich sind. Wenn alles stimmt, dann müssten diese Medikamente heute in Gaza eintreffen. Die Frage ist, warum wird solange mit der Versorgung gewartet?

Es kamen einige dieser Medikamente, ABER das reicht weder vorne noch hinten.

Eine zentrale und sehr wichtige Frage ist hier immer noch nicht so richtig klar: was wird mit den Angestellten, die zwischen 2007 und 2017 die ganze Zeit gearbeitet haben? Werden sie alle übernommen? Werden sie alle ihre Stellen weiterhin innehaben? Oder werden sie versetzt? Und was wird mit den Angestellten im Nicht-Zivilen-Bereich? Das sind sehr heikle Fragen und ich hoffe so sehr, dass unsere Gruppen sich da irgendwie einigen, dass diese Beamten weiterhin beschäftigt bleiben, denn der private Sektor ist immer noch sehr schwach und nicht in der Lage, allen Arbeitsplätze anzubieten. Der Staat ist LEIDER der größte Arbeitgeber, wie es in den meisten Entwicklungsländern der Fall ist. Es handelt sich in Gaza immerhin um ca. 40.000 Angestellte.

Zurzeit finden Halbsemesterprüfungen statt, sowohl an den Universitäten als auch an den Schulen, von der ersten bis zur 11ten Klasse. Nur Abiturienten und Abiturientinnen sind da ausgeschlossen. Ich lese und höre aber, dass Prüfungen von der ersten bis vierten Klasse neu geregelt werden. Ich werde Ihnen und Euch davon erzählen, wenn ich mehr darüber weiß.

Am 11. November in diesem Jahr wurde in Gaza öffentlich an den Todestag von Präsident Arafat erinnert. Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser folgten dem Aufruf der Fatah und gingen auf die Straße, um ihren Respekt gegenüber Arafat zu bekunden, denn er war, ist und bleibt für uns ein Symbol. Mit ihm verbinden wir bis heute die Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit, d.h. auf einen eigenen Staat. Seinen Einsatz für einen Staat Palästina werden wir nicht vergessen. Am 11. November 2004 ist Jassir Arafat gestorben. Seit Februar 1969 war er dritter Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation sowie von Februar 1996 bis zu seinem Tod 2004 war er erster Präsident der palästinensischen Autonomiegebiete. 1957 wurde er Mitbegründer und später Anführer der palästinensischen Fatah. In diesem Jahr nun war es das erste Mal in Gaza, dass eine solche Veranstaltung zu seinen Ehren an seinem Todestag stattgefunden hat.

Nebenbei bemerkt verbindet mich mit Arafat noch etwas ganz persönlich, denn Arafat war wie ich Ingenieur. Er war als Bauingenieur tätig. Sein Vater stammte aus Gaza City und seine Mutter aus einer angesehenen Jerusalemer Familie.

Seit 1988 feiern wir am 15. November den Tag der Unabhängigkeit Palästinas.

Damals hat die PLO von Algerien aus unter Führung von Präsident Arafat den Staat Palästina ausgerufen. Nach der Vereinbarung zwischen der PLO und Israel an diesem Tag ist das nun unser Nationaler Feiertag geworden.

Ein Ereignis beschäftigt sowohl unsere Medien als auch die der Besatzung, und das ist die Zerstörung des Tunnels im Süden des Gazastreifens durch Israel. Infolgedessen starben 13 Personen. Den Medienberichten entsprechend gehörten die meisten von ihnen dem Islamischen Jihad an und zwei der Hamas. Ich berichte Ihnen und Euch davon, weil dieses Ereignis womöglich, zu einem erneuten Krieg gegen den Gazastreifen und seine schutzlose Bevölkerung führen könnte. Ich hoffe so sehr, dass es nicht dazu kommt. ABER seitdem die Tunnel zerstört wurden, hören wir permanent die Geräusche der Drohnen über unseren Köpfen. Und je nachdem wo man im Gazastreifen wohnt, kann dieses Geräusch extrem störend und Angst machend sein. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von beiden Seiten, d.h. von Israel und Gaza, Drohungen gegen die jeweils andere Seite in den Medien bzw. Nachrichten laut werden. Diese Situation ist sehr unerträglich für die Bevölkerung. Ich denke, dass dies für beide Seiten zutrifft, jedenfalls auch für einige friedliebende Israelis, die ebenfalls keinen Krieg wollen, die sich aber meinem Eindruck nach, nicht laut genug zu Wort melden. Das Leid der Besetzten durch die Besatzer ist niemals mit dem Leben der Besatzer zu vergleichen.

Am 20. November wurde die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten unter der Regierung von Dr. Rami Hamdallah geöffnet. Das war das erste Mal seit 2007, dass der Grenzübergang Rafah von der neuen Führung verwaltet wurde. Allerdings hat sich sonst kaum etwas geändert, denn nur sehr wenigen Personen war es möglich, den Gazastreifen Richtung Ägypten zu verlassen, z.B. aus humanitären (medizinischen) oder persönlichen Gründen.

Am 21. November 2017 werden sich die Palästinensischen Gruppen wieder in Kairo treffen und über den Fortgang des Versöhnungsprozesses beraten und sich über die nächsten Schritte austauschen. Fragen wie das Verhältnis zwischen Hamas und PLO geregelt werden soll, wann und wie die kommenden Wahlen und die Erneuerung des Palästinensischen Nationalrates stattfinden sollen werden da unter anderem diskutiert werden. Wichtiges Thema ist natürlich die Bildung einer Einheitsregierung. Auch wird es Thema sein, wie die ehemals HamasAngestellten in das vorhandene Beamtensystem der Palästinensischen Autonomiebehörde eingebunden und integriert werden können.

Am 27. November 2017 ist eine Ägyptische Delegation in den Gazastreifen über Grenzübergang Erez-Bet-Hanoun eingetroffen, mit dem Ziel die Umsetzung der Vereinbarungen zwischen Fatah und Hamas zu beaufsichtigen und gegebenenfalls einzugreifen, damit die Umsetzung auch tatsächlich vollzogen wird. Ich hoffe so sehr, dass diese Delegation nun ihr Ziel erreicht, so dass wir konkrete Verbesserungen unserer Alltagsprobleme erfahren.

Heute, am 28. November, d.h. eine Woche nach dem Treffen der Palästinensischen Gruppen in Kairo, sind wir leider mit der innerpalästinensischen Versöhnung nicht viel weiter gekommen.

Das Treffen hat lediglich einen Zeitplan im Visier, dass alle Wahlen vor Ende des Jahres 2018 stattfinden sollen. Allerdings muss der Präsident diesen Prozess auch tatsächlich in Gang setzen.

Bis heute hat sich NICHTS für die Bevölkerung in Gaza geändert. Die Stromversorgung ist immer noch katastrophal. Diese Woche hatten wir an einem Tag für über 18 Stunden keinen Strom.

Die Behandlung von Patienten aus Gaza in der Westbank oder in Israel ist bei weitem nicht wie vor April 2017, d.h. nur sehr wenige schwerkranke Menschen erfahren die notwendige medizinische Hilfe, die bei bestimmten Krankheiten in Gaza wegen der entweder nicht vorhandenen oder veralteten Geräte nicht geleistet werden kann. Außerdem fehlen viele wichtige Medikamente, so dass die medizinische Versorgung nicht ausreichend gewährleistet ist.

Ich habe gehofft, Ihnen und Euch positivere Meldung schicken zu können, ABER ich kann die momentane Lage leider nicht schöner darstellen als sie ist.

Anfang Dezember wollen sich nun die Palästinensischen Gruppen wieder in Kairo treffen. Was dabei rauskommen wird, steht in den Sternen.

Zum Schluss möchte ich Ihnen zwei Bücher nennen, in denen Berichte von mir zu finden sind.

Johannes Zang: Gaza – Ganz nah, ganz fern. Mit Augenzeugenberichten von Abed Schokry aus Gaza, AphorismA Verlag Berlin 2013.

Im Oktober 2017 ist erschienen:

Palästina – Vertreibung, Krieg und Besatzung von Annette Groth / Norman Paech / Richard Falk (Hg.) PapyRossa 2017. Darin habe ich auch einen Aufsatz geschrieben.

Auch wenn kein Honorar gezahlt werden konnte, so war die Mitarbeit an diesen Büchern für mich wichtig. Ich hoffe, dass die Publikationen dazu beitragen, dass eine möglichst breite Leserschaft über unsere Situation als Palästinenserinnen und Palästinenser etwas erfährt und wir nicht vergessen werden. Übrigens, das zuletzt erschienene Buch kann ich selbst nicht einmal in Händen halten, da ein Versand nach Gaza nicht möglich ist. Aber Sie können es bestellen und sich schicken lassen oder in jeder Buchhandlung kaufen. Ich würde mich freuen.

In der Hoffnung Ihnen bald bessere Nachrichten melden zu können, verbleibe ich für heute

Mit freundlichen Grüßen

Ihr/Euer

Abed Schokry